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Mehr als nur ein Stückchen Papier?

01.04.1997
Die Popularität des Briefmarkensammelns ist in Taiwan ungebrochen. Ältere Philateli­sten glauben an den pädagogischen Nutzen des Hobbys, weil junge Leute dabei anschei­nend nicht auf schlechte Ge­danken kommen.
Es ist vielleicht nicht so populär wie Motorradrennen, trotzdem bleibt Briefmarkensammeln ein beliebter Zeitvertreib für viele taiwanesische Jugendliche, ganz zu schweigen von den Erwachsenen. Was ist daran so fazinierend?

Im 19. Jahrhundert prägte der Franzose Georges Herpin den Begriff 'Philatelie', was wörtlich soviel wie 'die Liebe für etwas, wofür man keine Steuer zahlt' bedeutet. In dieser unvollkommenen Welt muß man für die meisten Liebhabereien etwas bezahlen, sei es finanziell oder emotional. Woran also könnte Herpin gedacht haben? Er suchte nach einem passenden Ausdruck, der das Briefmarkensammeln umfaßt, und kurzes Nachdenken darüber bestätigt, daß er das passende Wort gefunden hat. Will man Briefmarken sammeln, braucht man nur Briefe zu empfangen. Der Absender bezahlt die Gebühr, der Adressat kommt kostenlos davon.

Nirgendwo ist Briefmarkensammeln so populär wie in Asien. Laut Chen Chiung-ling (陳瓊玲), Generaldirektor der Oberpostdirektion der Republik China, gibt es auf Taiwan 2,7 Millionen aktive Briefmarkensammler, das sind fast 13 Prozent der gesamten Bevölkerung. Sie begnügen sich aber nicht damit, auf Briefe zu warten, sondern geben jährlich Millionen von Dollar bei Händlern, Postämtern und Auktionen für Briefmarken aus. Die Oberpostdirektion fördert das Hobby mit Ausstellungen, Seminaren und anderen Aktivitäten. Jedes der jährlich 15 bis 20 neu herausgegebenen Exemplare wird von einer langen Reihe vor der Post anstehender Sammler begrüßt, die auf den Ersttag-Umschlag warten. Das sind Postkarten mit der neuen Briefmarke und dem Poststempel mit dem Datum des ersten Ausgabetages. Obwohl diese Ersttag-Umschläge keinen wirklichen kommerziellen Wert besitzen, so spielt das historische Zeugnis doch eine große Rolle für den Sammler. Von jeder neuen Ausgabe werden am ersten Tag etwa eine Million Sätze verkauft.

"Weltweit gilt Asien derzeit unbestritten als das Zentrum des philatelischen Marktes", behauptete ein Händler aus Amerika, der Taipei während der 10. Asiatisch-Internationalen Philatelie-Ausstellung im Oktober 1996 besuchte. "Hongkong und Taiwan sind die zwei Spitzenmärkte. Die USA waren einst ein großer Markt für uns, doch die Konkurrenz mit Baseballkarten und anderen Sammelobjekte hat das Geschäft stark beeinträchtigt."

Wie dem auch sei, Hobbys machen Spaß, und das beliebteste ist Sammeln, seien es nun Münzen, Bücher oder Autos. Briefmarkensammeln wird oft als Beschäftigung von Eigenbrötlern und Einzelgängern abgestempelt, und doch ist es eine der populärsten Freizeitbeschäftigungen der Welt. Die Welt ist also voller Eigenbrötler und Einzelgänger, oder an dem Hobby ist mehr, als das Auge auf den ersten Blick verrät.

"Briefmarken sind ein Fenster zu unserer Geschichte", erklärt Herr Lai, ein hiesiger Sammler. "Briefmarkenmotive zeigen wichtige Persönlichkeiten, Gegenstände und Ereignisse. Nachträglich aufgedrückte Stempel mit einem höheren Nennwert erinnern an Zeiten der wirtschaftlichen Depression und Inflation. Wir können viel von Briefmarken lernen, wenn wir wissen, wonach wir suchen sollen."

Preise für seltene Briefmarken erreichen oft schwindelerregende Höhen. Die meisten Philatelisten sammeln aber nur zum Spaß und nicht, um Wertanlagen zu horten.

Die Besucher des Chinesischen Postmuseums in Taipei werden Herrn Lais Aussage zustimmen, denn die philatelischen Annalen der Republik China sind eine ausgezeichnete Informationsquelle über die Geschichte und Kultur der Nation. Jede neue Ausgabe umfaßt eine bis sechs neue Marken. Es gibt eine umfassende Themenauswahl, vom Gedenken an die Errungenschaften Chiang Kai-sheks über chinesische Volksmärchen, berühmte Kaiser und Literaten, Meisterwerke der chinesischen Kunst bis hin zu profaneren Themen wie Entwicklungsprojekte, nationale Verteidigung, Gesundheit und Umweltschutz. Allein das Sammeln von Briefmarken der Republik China könnte einen Philateliten für Jahre beschäftigen.

Leider gibt es außerhalb Taiwans nicht allzu viele Interessenten für die Briefmarken der Republik China. "Beim Sammeln der Taiwan-Briefmarken gibt es zwei Nachteile", sagt Liao Ying-ming (梁景銘), ein taiwanesischer Sammler. "Der erste ist die große Menge - für jede Neuauflage werden mehr als vier Millionen Stück gedruckt. Bei einer solchen Größenordnung bringen die Marken kaum Gewinn und sind daher für den Handel uninteressant. Und für erfahrene Sammler sind sie dadurch zu gewöhnlich, um besondere Interesse zu erwecken. Der zweite Nachteil besteht darin, daß die Preise einiger älterer und seltener Stücke astronomische Höhen erreichen. Das schreckt viele Sammler ab." Drei komplette Bögen mit je einhundert Marken von der Ausgabe "1955 ROC Armed Forces Day" wurden kürzlich auf einer Auktion in Hong Kong für mehr als 14 000 US$ verkauft.

Einige der Geschichten, die über bestimmte Briefmarken erzählt werden, versehen ein unscheinbares Objekt mit einem interessanten Hintergrund. Das erste Postamt auf Taiwan beispielsweise, das 1888 von einem hochrangigen Beamten der Ching-Dynastie, Liu Ming-ch'uan (劉銘傳), gegründet wurde. Über das britische Konsulat in Tamsui bestellte Liu bei einer Wertpapierdruckerei in London zwei Briefmarkenserien, eine grün, die andere rot, beide mit demselben Nennwert und Motiv. Diese Briefmarken sind aufgrund ihres Designs allgemein als "Drache und Pferd" bekannt. Vor ihrer Herausgabe wurden gerade die neue Bahnlinien zwischen Taipei und Keelung sowie Taipei und Shuichuanchiao fertiggestellt. Die Bahnverwaltung hatte allerdings noch keine Fahrkarten zur Verfügung. Der Gouverneur genehmigte daraufhin kurzerhand die Verwendung der neuen "Drachen und Pferd"-Briefmarken als Zugfahrkarten. Diese Exemplare wurden mit einem Aufdruck des Namens der betreffenden Bahnlinie versehen.

Ein weiteres Beispiel. 1894 entbrannte ein kurzer Krieg zwischen dem chinesischen Kaiserreich und den japanischen Kräften im Nordosten Chinas. Die Chinesen verloren, und die Ching-Regierung wurde im Vertrag von Shimonoseki, der am 17. April 1895 unterzeichnet wurde, gezwungen, Taiwan an die Japaner abzutreten. Doch die Taiwanesen wehrten sich und gründeten im Gegenzug am 25. Mai die Republik Formosa. Damals waren die Truppen des Schwarzen Banners unter General Liu Yung-fu (劉永福) in Tainan, einer Stadt im Süden Taiwans, stationiert. Sie schworen, sich mit allen Mitteln der japanischen Besatzung zu widersetzen.

Liu brauchte jedoch Geld, um die kleine Armee und die lokale Miliz zu unterhalten. So wurde am 31. Juli die Postverwaltung der Republik Formosa gegründet. Sie gab eigene Briefmarken heraus und bot der Öffentlichkeit Postdienste an. Die damals veröffentlichten Briefmarken zeigen ein "Fließender Fluß und brüllender Tiger"-Motiv und sind allgemein unter dem Namen "Single Tiger" bekannt.

Der taiwanesische Widerstand wurde von den Japanern gebrochen, und am 19. Oktober war General Liu gezwungen, sich nach China zurückzuziehen. Die Japaner brachten die Insel unter ihre Kontrolle, und die Postverwaltung der Republik Formosa wurde nach nur 81 Tagen wieder geschlossen. Vor kurzem wurde ein Block "Single Tiger"-Briefmarken auf einer öffentlichen Auktion für 565 US$ verkauft.

Viele Briefmarkensammler und -händler glauben, daß mit solchen und ähnlichen Anekdoten in jungen Leuten ein Interesse für Geschichte und andere Wissensgebiete geweckt werden kann. "Ein großer Vorteil beim Briefmarkensammeln ist, daß man sehr leicht Zugang findet", meint Ray Martin, ein amerikanischer Briefmarkenhändler. "Man muß kein Experte sein, es sei denn, man ist auf der Suche nach echten Raritäten. Für junge Leute ist es besonders gut, weil sie es sich finanziell leisten können und sie sich dabei sinnvoll beschäftigen. Ich wuchs mit fünf Geschwistern auf, doch wir hatten nie Ärger wegen Drogen, Alkohol oder Straftaten. Wir verschwendeten unsere Zeit auch nicht mit Videospielen, weil es andere, für uns viel interessantere und produktivere Dinge zu tun gab, wie zum Beispiel Briefmarken sammeln."

Erfahrene Philatelisten wissen, warum sich das Anlegen umfassender und gezielt themenorientierter Sammlungen lohnt.

Martin betont, daß Philatelie nicht ausschließlich Männern vorbehalten sei. "In Asien gibt es viel mehr Frauen, die Briefmarken sammeln als im Westen, aber es gibt immer noch mehr männliche als weibliche Sammler", meint Neil Granger, ein Briefmarkenexperte vom internationalen Auktionshaus Christie's. "Viele sammeln mit Begeisterung, wenden sich aber als Heranwachsende meist anderen Hobbys zu. Manche fangen dann als Erwachsene wieder an zu sammeln. Die meisten Sammler sind mittleren Alters, zumindest diejenigen, die an Auktionen teilnehmen."

Briefmarken werden aber nicht nur in Auktionshäusern verkauft, erklärt Danny Bosca, Leiter der Philatelieabteilung der australischen Post. "In Taiwan gibt es eine breite Basis von Sammlern, Kinder und Erwachsene, die an einfachen und attraktiven, jedoch billigen Ausgaben interessiert sind, bis hin zu jenen, die Raritäten in der höchsten Preisklasse suchen", sagt er. "Und die haben auch das Geld für diese seltenen Stücke."

Preis und Gewinn hängen größtenteils von Markttendenzen ab. Eigens für die neunte Philateliemesse Asiens, die 1995 in Indonesien stattfand, wurde ein Satz von sieben Briefmarken in limitierter Auflage für acht US$ verkauft. Ein Jahr nach der Ausstellung war der Wert bereits auf 150 US$ gestiegen. Davon wird man natürlich nicht reich, eher schon von der "Treskilling Yellow", einer seltenen schwedischen Einzelmarke aus dem Jahre 1855, die kürzlich auf einer Auktion 2,3 Millionen US$ einbrachte. Wie jeder Sammler hat auch der Philatelist etwas von einem Glücksspieler. Wonach sucht ein durchschnittlich intelligenter Philatelist?

"Für jeden Sammler auf der Welt liegt das Hauptinteresse fast immer in der philatelischen Geschichte des eigenen Landes", glaubt Neil Granger von Christie's. "Der Rest sind Modeerscheinungen, und die kommen und gehen! Ausgaben von einem kleinen Land, die Pitcairn-Inseln zum Beispiel, könnten die Aufmerksamkeit eines Sammlers erwecken. Er findet ein besonders Interesse und beschließt, sie zu sammeln. Er fängt an, überall nachzuforschen; das nehmen dann immer mehr Leute zur Kenntnis, und die Preise steigen. Manchmal sind die Marken jedoch schwer zu fnden oder von begrenztem historischem Wert, oder es gibt einfach nicht viele davon. Aus welchen Gründen auch immer, letztendlich schwindet das Interesse, sobald etwas anderes in die Gedankenwelt des Sammlers eindringt."

Was ist denn zur Zeit der letzte Schrei? "In den letzten Jahren waren Briefmarken aus Hongkong wegen der bevorstehenden Übergabe an Festlandchina stark im Rennen", stellt ein amerikanischer Händler fest. "Der Souveränitätswechsel ist inzwischen aber so nahe gerückt, daß der Markt für Briefmarken aus Hongkong sehr unbeständig geworden ist. Viele halten sich lieber zurück, um sich nicht mit riskanten Spekulationen die Finger zu verbrennen." Was noch? "Macau hat, aus demselben Grund wie Hongkong vor einigen Jahren, starkes Interesse erweckt", fügt er hinzu. "In nur zwei Jahren findet dort die Übergabe statt. Deshalb werden die Briefmarken aus dem portugiesischen Macau ziemlich populär." Werden die Marken ihren Wert auch nach der Übergabe beibehalten können? "Im Falle Hongkongs werden Spekulationen und das vermehrte Herausgeben neuer Stücke noch bis etwa ein, höchstens zwei Jahre nach der Übergabe andauern", vermutet Granger von Christie's. "Dann wird das Ganze zusammenbrechen."

Leicht wird man zu dem Schluß verleitet, Philatelie sei rein von Modeerscheinungen abhängig. Gibt es auch Dauerbrenner, also Briefmarken, die imstande sind, ihren Wert dauerhaft aufrecht zu erhalten? Die Sammlergewohnheiten in Taiwan deuten darauf hin, daß es so was gibt. "Wir verkaufen viele Marken der Republik China und der Volksrepublik", sagt ein hiesiger Sammler. "Sammler mögen den Kontrast, der damit in ihren Kollektionen zum Ausdruck kommt, ganz besonders, wenn sie Ausgaben von beiden Seiten der Taiwanstraße aus demselben Zeitraum besitzen." Ist das alles? "Na ja, das hängt vom Sammler ab. Die beliebtesten Stücke in Taiwan sind die preiswerten, aber attraktiven Ausgaben mit chinesischen Kunstwerken wie traditionelle Tuschezeichnungen. In absoluten Zahlen gerechnet zeigt sich hier der Markt am stärksten, besonders bei den jüngeren Sammlern."

Auch die älteren, seriöseren Sammler haben ihre Vorlieben. "Weltweit sind chinesische Briefmarken äußerst populär", meint Simon Andrews vom Cecil Court Stamp Shop in London. "Dazu gehören die großen und kleinen Drachenausgaben (die ersten Briefmarken Chinas, erstmals 1878 herausgegeben) aus dem 19. Jahrhundert und Ausgaben aus dem kommunistischen China der sechziger Jahre."

Was gerade "in" ist, erfährt man am besten dadurch, wieviel ein Sammler zu zahlen bereit ist, um eine bestimmte Marke zu erwerben. Auf vor kurzem in Hongkong stattgefundenen Auktionen von Christie's und Sotheby's, beide sehr stark von Käufern aus Hongkong und Taiwan besucht, wurde die Stärke des lokalen Philateliemarktes getestet und demonstriert. Bei jeder Auktion wurde fast alles verkauft. Die Erträge überstiegen sechs Millionen US$. Den höchsten Preis für ein Einzelstück zahlte ein taiwanesischer Sammler. Für 280 000 US$ erstand er bei Sotheby's einen Satz von drei chinesischen roten Steuermarken aus dem Jahr 1897.

Wie sollte ein ehrgeiziger Philatelist vorgehen, um sich eine Sammlung zusammenzustellen? Notwendig sind eine Pinzette, die den Umgang mit den Marken, besonders wenn sie gummiert sind, vereinfachen, ein Vergrößerungsglas und ein Briefmarkenalbum. Dann kommt die Entscheidung, was man denn sammeln möchte. Die beliebteste Strategie ist das thematische Sammeln, das heißt man konzentriert sich auf ein bestimmtes Land und seine Ausgaben über einen spezifischen Themenbereich wie etwa historische Persönlichkeiten, Sport, Vögel, und ähnliches. Solange keine Raritäten im Spiel sind, ist das Ganze recht billig.

Seltenheitswert erlangt eine Marke dann, wenn von den vielen, die zuerst herausgegeben wurden, nur wenige bis zum heutigen Tage übrig geblieben sind. Dies ist oft der Fall bei Stücken aus dem 19. Jahrhundert, als Briefmarken gerade erfunden worden waren. Es kann natürlich auch sein, daß von einer bestimmten Ausgabe nur eine limitierte Auflage gedruckt oder verkauft wurde. Die kostbarsten Stücke allerdings sind jene mit auffälligen Fehlern wie beispielsweise der "umgekehrte Sun Yat-sen-Bogen" In den dreißiger Jahren gab die Republik China zum Gedenken an Sun Yat-sen (1866-1925), den Gründer des modernen China, Briefmarken heraus. Auf den Marken war sein Konterfei zu sehen. Eine kleine Anzahl wurde jedoch irrtümlicherweise umgekehrt gedruckt, so daß sein Kopf falsch herum abgebildet war. Ein ungebrauchter Block mit zehn solcher Marken wurde 1994 auf einer Auktion in Hongkong für 150 000 US$ verkauft.

Raritäten sind eigentlich immer wertvoll, unabhängig von ihrem Zustand. Geht es aber nur um Sammelobjekte und nicht um Wert, ist man schon eher wählerisch. "Neue Sammler achten oft zu wenig auf die Qualität oder die Erscheinung der Marken", meint der taiwanesische Sammler Liao Ying-ming. "Sammler brauchen Zeit, um ihre persönlichen Vorlieben zu entdecken", fährt er fort. "Ich sammle schon seit zwanzig Jahren und liebe alle meine Marken. Ich hätte inzwischen genug, um meinen eigenen Laden zu eröffnen, aber ich beschäftige mich nicht damit, um ein Geschäft daraus zu machen oder um Wertanlagen zu horten. Ich mag dieses Hobby nun einmal, und es freut mich sehr, wenn andere Leute anfangen, Briefmarken zu sammeln. Anfänger sollten daran denken, wie wichtig es ist, sich auf ein Thema zu konzentrieren, nur gut erhaltene Marken zu sammeln und vor allem die Sammlung gut instand zu halten." Guter Rat! Wer weiß, vielleicht machen Sie die Marken eines Tages reich.

(Deutsch von Herbert Salvenmoser)

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